18 Okt 22 15 Jahre MEETINGPOINT MEMORY MESSIAEN e.V.
Am 14.10.2022 lud der Meetingpoint Memory Messiaen zu einem ganz besonderen Konzert in die Gedenkstätte Stalag VIII A ein.
Anlässlich des 15-Jährigen Bestehens des Vereins verjazzten Günther Baby Somme, Steffen Gaitzsch und Johannes Enders Olivier Messiaens „Quartett auf das Ende der Zeit“, welches im Januar 1941 im Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A Görlitz auraufgeführt wurde.
Gemeinsam mit unserem Partner der Stifzung Erinnerung, Bildung, Kultur blickten wir auf die Arbeit für das Gedenken an über 120.000 Kriegsgefangenen des deutschen Kriegsgefangenenlagers Stalag VIII A zurück.
„Sehr geehrte Damen und Herren,
es gibt Momente, die sprengen jede Vorstellungskraft.
Solch einen Augenblick haben wir in der vergangenen Stunde erlebt.
Messiaens berühmtes Quartett als Jazz-Adaption mit Schlagzeug! Ich weiß gar nicht mehr, wie wir darauf gekommen sind, Günter Baby Sommer diese Idee anzutragen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir uns nicht vorstellen konnten, was aus dieser Idee werden könnte; wie würde es klingen? Kann das überhaupt klappen?
Nun haben wir dieses Konzert erlebt, und ich sage: unglaublich!
Herzlichen Dank an Günter Baby Sommer, Steffen Gaitzsch und Johannes Ender.
Unglaublich! Unmöglich!
So klang im Jahr 2007 das Echo auf diese Idee: Wir wollen eine Gedenkstätte bauen, Polen und Deutsche gemeinsam; es soll ein Ort der Erinnerung sein, ein Ort der Begegnung, ein Ort der Zukunft. Weit draußen vor der Stadt, im Wald. An einem Ort, dessen Geschichte über Jahrzehnte weitgehend in Vergessenheit geraten war.
Unglaublich! Das klang oft skeptisch, manchmal bewundernd, gelegentlich euphorisch.
Es war eine ziemlich gute Zeit damals. Nur drei Jahre zuvor waren Polen und Tschechien in die Staatenfamilie der Europäischen Union aufgenommen worden. 62 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schienen Frieden und Freiheit in Europa dauerhaft gesichert.
Der Mann, der die Idee für diesen besonderen Gedenkort hatte, war energiegeladen und fantasievoll wie ein Kind – aber er hatte die Lebenserfahrung aus mehr als sechs Jahrzehnten. Albrecht Goetze war noch im Krieg geboren worden, wuchs im Sozialismus auf, brach aus der Enge der DDR aus, machte in Westdeutschland Karriere als Theaterregisseur, erlebte aus der Ferne, wie der Kommunismus in Mittel- und Osteuropa zusammenbrach. Nichts ist selbstverständlich und kaum etwas von Dauer in dieser Welt: Das wusste Albrecht Goetze.
Für Frieden und Freiheit muss man hart arbeiten – ohne dabei das Spielerische zu vergessen, das jedem Menschen als schöpferische Gabe innewohnt. Mit dieser Erkenntnis hat Dr. Goetze den „Meetingpoint Music Messiaen“ vor 15 Jahren auf den Weg gebracht. Eine Ausstellung aus dem Frühjahr 2007 ist heute in diesem Haus zu sehen: Diese Tafeln wurden damals erst in Paris gezeigt, später in Brüssel. Damit war die Idee vom multimedialen Gedenk- und Begegnungszentrum auf dem historischen Gelände des einstigen Kriegsgefangenenlagers „Stalag VIII A Görlitz“ in der Welt.
Der Kern und die Basis aller Arbeit an diesem Projekt ist das Gedenken – die Erinnerung an 120.000 Männer aus vielen Ländern der Welt, die hier während des Zweiten Weltkrieges als Zwangsarbeiter von der Deutschen Wehrmacht festgehalten und in vielen Fällen misshandelt wurden.
Um dies auch nach außen zu zeigen, haben wir in diesem Jahr eine kleine, aber wichtige Akzentuierung im Namen vorgenommen. Aus dem „Meetingpoint Music Messiaen“ ist der „Meetingpoint Memory Messiaen” geworden. Das zeigt auch: 15 Jahre sind keine ganz kurze Zeit. Das Projekt hat sich entwickelt. Es musste und muss sich entwickeln. Denn in der Struktur dieses Gedenkzentrums ist gewissermaßen eine produktive Spannung angelegt: Ein deutscher Verein hat einst die Initiative ergriffen und verlässliche polnische Partner gefunden. Doch spätestens mit der Eröffnung dieses Hauses am 15. Januar 2015 wurde deutlich: Dieses „Europäische Zentrum“ ist zunächst und vor allem eine polnische Gedenkstätte. Die Europa- und Friedenseuphorie der Startphase hat uns bisweilen vergessen lassen, wie unterschiedlich die Perspektiven auf diesen Ort, auf seine Geschichte und auf die Kultur der Erinnerung sind: Deutschland hatte Polen brutal überfallen und unermessliches Leid über dieses Land und seine Menschen gebracht. Das ehrliche Anliegen, Schuld anzuerkennen und Verantwortung für eine gute gemeinsame Zukunft zu übernehmen, kann das Ungleichgewicht, die völlige Gegensätzlichkeit der Erinnerung an diese Zeit nie aufheben.
Und ist dieser polnisch-deutsche Gedenk-Ort einerseits ein Wunder – andererseits eine stetige Herausforderung.
Albrecht Goetze verglich den Weg zum Bau dieses Hauses oft mit der Besteigung des Mount Everest. Eine unglaubliche Willensstärke und Ausdauer gehört dazu, diesen Gipfel zu erklimmen. Kompromisslosigkeit und Strenge – vor allem sich selbst gegenüber. Und eine unbeirrbare Überzeugungskraft gegenüber Politikern, Geldgebern, Weggefährten.
Dieser Gipfel war am 15. Januar 2015 erreicht. Halbzeit gewissermaßen – wenn wir auf die gesamte Zeitspanne von 2007 bis heute blicken.
Nach der Ersteigung des Gipfels ging es diesmal aber nicht geordnet zurück ins Tal.
Es folgte vielmehr eine genauso schwierige und lange Strecke: auf 8000 Metern bei dünner Luft, mit Auf- und Abstiegen. Eine ähnliche mentale, charakterliche und auch körperliche Herausforderung wie der Aufstieg auf den Gipfel war das; ist das bis heute.
Diese Extremwanderung auf dem 8000er Bergkamm ist nur als Team zu bewältigen. Das sind die engagierten Frauen und Männer in der Geschäftsstelle unseres Vereins. Stellvertretend für sie danke ich Alexandra Grochowski, die unsere Geschäftsstelle und das Team mit all seinen Projekten leitet. Ich danke den aktiven Vereinsmitgliedern und insbesondere meinen Partnern im Vorstand: Ursula Roch, Ekkehard Schulze und Philipp Bormann.
Und wir alle danken unserer Expeditionsleitern auf der polnischen Seite: Kinga Hartmann-Woycicka, die seit über fünf Jahren Direktorin der Stiftung Erinnerung, Bildung, Kultur ist und somit auch die Leiterin dieser Gedenkstätte.
Dieser Marsch in großer Höhe ist geprägt von einem permanenten Dialog, auch von einem Ringen um die richtigen Inhalte und Methoden, die diesem Ort und seiner Geschichte angemessen sind.
Liebe Kinga, danke für Deine Inspiration, Deine Tapferkeit und Dein Vertrauen! Ohne diese Tugenden könnten wir die Partnerschaft über die Grenze hinweg nicht leben und nicht immer weiter ausgestalten.
In den vielen Gesprächen haben
Und ich habe auch gelernt: Es ist aus polnischer Perspektive durchaus irritierend, beim Gedenken an die 120.000 gefangenen und etwa 10.000 getöteten Soldaten an diesem Ort ausgerechnet Olivier Messiaen an die erste Stelle zu setzen – den französischen Komponisten, der nur vergleichsweise kurz im Stalag VIII A festgehalten und vergleichsweise gut behandelt wurde.
Dennoch steht Olivier Messiaen in unserer Arbeit stellvertretend für die zigtausend Leidensgenossen in diesem Lager. Die 45 Minuten Musik, die er der Welt aus seiner Zeit der Gefangenschaft überlassen hat, sind einerseits hohe Kunst – aber sie öffnen eben auch einen tiefen Blick in die Seele eines Menschen, der hier in Ungewissheit und Angst lebte.
Wir schauen hier nicht auf die schiere Zahl: 120.000.
Sondern wir versuchen, hinter dieser Zahl die je individuellen Menschen zu sehen. Persönlichkeiten mit ihren je eigenen Talenten und Gefühlen, mit ihren Charakteren – jeder einmalig und wertvoll.
Dafür sensibilisiert uns Messiaens wunderbare Musik; dafür sensibilisieren uns Musik und Kunst anderer Schöpferinnen und Schöpfer, wenn wir sie hier in unsere Erinnerungsarbeit einflechten.
Musik und Kunst sind für den Meetingpoint Memory Messiaen Schlüssel oder Brücken zu einem tieferen Verständnis für das, was vor 80 Jahren an diesem Ort geschehen ist.
Wir würdigen Olivier Messiaen und sein berühmtes Quartett nicht, um vom Leid in den deutschen Lagern abzulenken. Im Gegenteil: Es geht darum, den Wert jedes einzelnen Menschen hervorzuheben. Durch diese Perspektive bekommt das Leid der Kriegsgefangenen eine andere Tiefe, eine andere Dimension als es eine noch so verstörende Zahl ausdrücken kann.
Was ein einzelner Mensch bewegen und leisten kann: An diesem Ort und besonders an diesem Abend wird mir das noch einmal besonders bewusst.“ – so Frank Seibel, der Präsident des Vereins.
Die Hausherrin uns Stiftungsleisterin Frau Kinga Hartmann-Wóycicka nahm Bezug auf die aktuelle Situation in der Welt und unterstrich die Wichtigkeit unserer Arbeit.
„Meetingpoint Memory Messiaen feiert heute das beachtliche Jubiläum seines 15-jährigen Bestehens als Verein.
In solchen Momenten ziehen die Bilder der vergangenen Jahre vor unseren Augen vorbei. Sie sind sehr unterschiedlich. So unterschiedlich wir Menschen auch sind und so unterschiedlich unsere Erfahrungen und Ansichten zu vielen Dingen sind.
Und das Thema, mit dem wir uns beschäftigen, ist ein besonders schwieriges. Vielen namhaften Vertretern unserer Länder gelingt es nicht immer, einen Konsens über die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und seine dramatischen Folgen zu finden.
In unserem Fall kam die Politik der Nachkriegszeit ins Spiel. Hier haben wir die Tatsache, dass ein ehemaliges deutsches Lager, in dem während des Krieges etwa 120.000 Soldaten aller Armeen, darunter etwa 9.000 polnische Soldaten, gefangen gehalten wurden, heute auf dem Gebiet des polnischen Staates liegt. Die Last des Gedenkens hat sich auf die Opfer dieses Krieges verlagert.
Es mussten viele Jahre und große Ereignisse stattfinden, damit wir gemeinsam an dieser historischen Herausforderung arbeiten konnten. Das kommunistische Regime musste fallen, die deutsche Wiedervereinigung fand statt und Polen wurde Mitglied der Europäischen Gemeinschaft.
Hier, auf regionaler Ebene, wird seit einigen Jahren von einer Europastadt gesprochen.
Dies sind Meilensteine im Leben unserer Gesellschaften. Es ist daher ein großer Erfolg, dass der Verein Meetingpoint Memory Messiaen e.V. und die Stiftung Erinnerung, Bildung, Kultur gemeinsam diese einzigartigen Prozesse in Gang gesetzt haben, die der Versöhnung von Deutschen und Polen dienen.
Nachdem wir jahrzehntelang in der Überzeugung gelebt hatten, dass der Krieg und die damit verbundenen Gräueltaten der Vergangenheit angehören, wurden wir plötzlich mit der Tatsache konfrontiert, dass die Russische Föderation ihre Truppen in die Ukraine entsandt hatte. Obwohl Russland nicht offiziell den Krieg erklärt hat, haben sein Führer und seine Gehilfen beschlossen, der Ukraine das Recht auf eine unabhängige Existenz zu nehmen. Wir sehen also wieder einmal Kriegsgefangene, Massengräber, zerstörte Häuser und Menschen in Notunterkünften. Wieder einmal müssen wir uns mit den Gräueltaten auseinandersetzen und darüber nachdenken, wo wir stehen.
Es liegt noch viel Arbeit vor uns.
Ich wünsche meinen Kollegen in der MMM-Geschäftsstelle, den Vorstandsmitgliedern des Vereins, den Unterstützern und allen, die sich für unsere Arbeit interessieren, alles Gute.
Wir haben gemeinsam viel erreicht, aber es liegen noch viele Herausforderungen vor uns. Wir sollten also nicht vor Problemen zurückschrecken, wir sollten keine Angst vor ihnen haben. Sie sind nur dazu da, um sie zu lösen und um uns immer stärker zu fühlen.
Alles Gute!“
Wir bedanken uns herzlich für die vielen Glückwünsche und bei allen unseren Freunden und Unterstützern.
GörlitZgorzelec, den 14.10.2022
Fotos: Jakub Purej