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Besuch aus der Normandie

Besuch aus der Normandie

Vor einigen Tagen sind wir abermals Zeugen der Vielschichtigkeit und Weitläufigkeit der Verzweigungen des Erinnerungsortes Stalag VIII A geworden. Eliane und ihr Sohn Laurent Davou aus der Normandie sind am 11.09.2024 zum ersten Mal nach Görlitz-Zgorzelec gekommen. Hier war ihr Vater bzw. Großvater Emile Stéphan von Mai 1940 bis Mai 1945 mit der Nummer 15582 als Kriegsgefangener im Stalag VIII A registriert. Es ist die Arbeit am Familiengedächtnis, die die beiden Nachfahren in die Gedenkstätte geführt hat.

Wie so viele andere heimgekehrte Kriegsgefangene hat auch Emile Stéphan selbst seiner Familie nur wenig von der Zeit der Gefangenschaft erzählt. Das ist ein typisches Phänomen: Auch in Frankreich schwiegen die ehemaligen Kriegsgefangenen nach ihrer Rückkehr in die Heimat häufig zu ihrem Aufenthalt in Lagern. Häufig müssen die nachfolgenden Generationen sich daher eigenständig auf Spurensuche begeben, um die Biographien ihrer Vorfahren zu rekonstruieren. Und so ist es auch im Falle von Eliane und Laurent Davou ein heterogenes und fragmentiertes Konglomerat aus offiziellen Dokumenten, Fotos und in der Familie kursierender Erzählungen, die dafür die Grundlage und Anhaltspunkte bilden.

Rekonstruieren, Lücken füllen

Wichtige Eckdaten finden sich etwa im überlieferten „livret militaire“: Am 3. September 1939 in die französische Armee mobilisiert, wurde Emile Stéphane am 14. Mai 1940 in Ermeton (Belgien) gefangen genommen und kam anschließend ins Kriegsgefangenenlager Stalag VIII A. Seine „Repatriierung“, die Rückkehr nach Frankreich, erfolgte am 20. Mai 1945, am 13. Juni 1945 dann die „Demobilisierung“.

Über das Leben in Gefangenschaft selbst ist jedoch wenig bekannt. Fotos zeigen Emile Stéphan gemeinsam mit anderen Gefangenen auf dem Lagergelände, etwa vor einer Baracke. Auch Postkarten sind überliefert, versehen mit dem Stempel „Stalag VIII A geprüft“. Zur fragmentierten Überlieferung gehört auch die Erzählung von einem Fluchtversuch, den er, offenbar erfolglos, aus dem Lager unternommen hatte.

Eine der wenigen weiteren von Emile Stéphan selbst ausgegeben Informationen ist die, dass er auf einem Bauernhof zur Zwangsarbeit eingesetzt war. Das legen auch weitere Aufnahmen nahe, die ihn in ländlich anmutender Umgebung auf einem Hof oder auf einer Wiese zeigen. Der Einsatz auf dem Land passt auch ins Bild: In der „Rassenhierarchie“ der Nationalsozialisten, die auch maßgeblich Unterbringungsbedingungen von Kriegsgefangenen und deren Arbeitseinsatz mitbestimmte, standen die romanischen Franzosen deutlich höher als etwa die im NS-Jargon so genannten „slawischen Untermenschen“. Dementsprechend wurden sie im deutschen System Zwangsarbeit tendenziell unter weniger schweren Bedingungen untergebracht und zur Arbeit eingesetzt als etwa Kriegsgefangene der Roten Armee. Der Einsatz auf dem Land war überdies durch eine meist bessere Versorgungslage gekennzeichnet.

Man habe ihm angemerkt, wie er von der deutschen Gefangenschaft „gezeichnet“ gewesen sei („il était marqué par ça“), erinnert sich seine Tochter im Gespräch. Er habe eine Aversion gegen alles Deutsche entwickelt, bei Albträumen habe er Deutsch gesprochen. Es mutet paradox an, dass in einem alten und fast aufgelösten Adressbuch aus dem Nachlass jedoch auch die Adressen und Namen zweiter deutscher Frauen, Frau Anni und Frau Selma, vermerkt sind. Hielt der ehemalige Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter mit Deutschen nach dem Krieg Kontakt, war er gar nach dem Krieg nochmals in Deutschland auf Besuch? Dies wäre aber tatsächlich nichts Ungewöhnliches – reichte das Spektrum der Interaktion zwischen lokaler Bevölkerung und zur Zwangsarbeit verpflichteten Kriegsgefangenen doch von erniedrigender unmenschlicher Behandlung doch bis zu engeren persönlichen Kontakten. Doch bleibt es im Falle Emile Stéphans bei Spekulation, wie bei so vielem, wofür es nur noch fragmentierte Anhaltspunkte gibt.

Familiengedächtnis, europäisches Gedächtnis

Immer wieder nehmen Menschen lange Wege und Unannehmlichkeiten in Kauf, um Jahre und Jahrzehnte nach dem Tod ihrer Väter und Großväter mehr zu deren Biographien in Erfahrung zu bringen. Immer wieder lässt sich beobachten, wie der Besuch im ehemaligen Stalag VIII A eine symbolische Verbindung zwischen den Generationen stiftet: Am konkreten Ort, an dem nur noch wenig vom ehemaligen Gefangenenlager zeugt, findet das Familiengedächtnis gleichsam einen Anknüpfungspunkt. In der Sprache der Wissenschaft: das Stalag VIII A ist für viele Nachfahren ein Ort, an dem das „kommunikative Gedächtnis“ der Familie, also die mündlich von Angehörigen weitergegebene Erfahrung, erweitert, komplettiert, mit eigener Anschauung gefüllt und dann weitergegeben wird. Für viele schließt sich hier ein Kreis.

Jenseits des Familiengedächtnisses stehen solche Besuche aber noch für sehr viel mehr: dass es an diesem heute in Polen gelegenen Ort zu Begegnung und Austausch zwischen den Nachfahren eines französischen Kriegsgefangenen und dem Nachfahren eines deutschen Wehrmachtsangehörigen kommt, löst den hohen Anspruch der Gedenkstätte ein, ein europäisches Zentrum der Erinnerung und Versöhnung zu sein. In solchen Begegnungen zeigt sich, wie sich ein „europäisches Gedächtnis“ auf der Mikroebene konstituieren kann.