27 Feb. 25 Unwahrscheinliche Verbindungen, oder der französische Surrealismus und das Stalag VIII A
Je te vois dans les montagnes de
Slovaquie À la dernière heure par les torrents entraîné
Marchant dans la dernière neige ayant laissé
Derrière toi les barbelés du
Stalag et les feux des miradors
Ich sehe dich in den Bergen der
Slowakei In der letzten Stunde durch die Bäche getrieben
Du gehst durch den letzten Schnee, hinter Dir lassend
den Stacheldraht des
Stalag und die Feuer der Wachtürme
Diese Verse entstammen dem Gedicht Der Preis des Frühlings des weltbekannten französischen Dichters und Schriftstellers Louis Aragon (1897-1982), geschrieben 1945. Das Stalag, von dem hier die Rede ist, ist kein anderes als das Stalag VIII A Görlitz – wie kommt es, dass einer der exponiertesten Dichter und Schriftsteller Frankreichs vom fernen Paris aus auf diesen Ort Bezug nimmt, den er weder vor noch nach 1945 jemals betreten hat? Und wie kommt es, dass wir 2025 davon erfahren und uns damit beschäftigen? Die Antworten auf beide Fragen hängen in ihrer Vielschichtigkeit zusammen und sind eine Betrachtung wert.
80 Jahre nach Befreiung des Lagers Stalag VIII A am 8. Mai 1945 werden wir tagtäglich Zeug:innen der Ausmaße des dicht geknüpften Netzes an Erinnerungen, Erzählungen und Geschichten, die Menschen in Frankreich, Polen, Großbritannien oder der Ukraine mit dem Namen Görlitz verbinden, ohne jemals vor Ort gewesen zu sein. Das Stalag VIII A ist nicht nur ein geographischer, sondern auch symbolischer Erinnerungsort, der bewusst oder unbewusst die Geschichten tausender Familien bestimmt hat und weiterhin bestimmt. Von der Unvergangenheit seiner Vergangenheit kriegen wir in Görlitz dadurch etwas mit, dass Nachfahr:innen ehemaliger Kriegsgefangener sich auf Facebook oder in eigens eingerichteten Internetforen organisieren und sich als Ahnenforscher: innen betätigen, um mehr über die Geschichte ihrer Väter, Großväter oder Urgroßväter herauszufinden, die während des Zweiten Weltkriegs als Kriegsgefangene unfreiwillig nach Görlitz kamen. Die Arbeit am transgenerationellen Familiengedächtnis führt sie physisch oder digital nach Görlitz und Zgorzelec in der Hoffnung darauf, Lücken zu füllen, Zusammenhänge rekonstruieren und verstehen zu können. Über den Kontakt mit den Nachfahr:innen konstituiert sich vor unseren Augen der Charakter des Stalag VIII A als eines aktiven „Erinnerungsortes“, dessen Konturen sich über die mannigfaltigen Verzweigungen und Bezüge, von denen wir erfahren, immer wieder verschieben und erweitern.
Der Kontakt mit einer französischen Nachfahrin steht hinter der Entdeckung einer solchen Verzweigung, die das Lager mit der links-intellektuellen Künstlerkultur der französischen Zwischenkriegs- und Nachkriegszeit verbindet. Seit dieser Entdeckung müssen wir in die „Gipfelkette“ der prominenten Insassen des Stalag VIII A neben den Komponisten Olivier Messiaen mindestens eine neue Figur einreihen, deren Biographie diese heterogenen Bezüge in sich vereint: den französischen Dichter, Drehbuchautoren und Journalisten Pierre Unik (1909-1945). An ihn wendet sich das oben zitierte Gedicht von Louis Aragon.
1909 in Paris als Sohn einer Niederländerin und eines polnischen Juden geboren¹, kommt Unik früh, noch nicht einmal volljährig, mit dem bekannten Schriftsteller und Dichter André Bréton in Kontakt, der sich vom schriftstellerischen Talent des noch nicht einmal volljährigen Jugendlichen überzeugen lässt. Über Bréton wird Unik inhärenter Teil der surrealistischen Bewegung im Paris der 1920er Jahre, jener Ende des Ersten Weltkriegs entstandenen Strömung, die sich nach den Worten des Manifests des Surrealismus von 1924 dem „reinen psychischen Automatismus“ verschrieb, „durch den man sich vornimmt, entweder verbal, schriftlich oder auf jede andere Weise die tatsächliche Funktionsweise des Denkens auszudrücken“. Der junge Unik publiziert in den führenden Organen der Bewegung, so in der Zeitschrift La Révolution surréaliste, und macht Bekanntschaft mit dem Who’s Who der links-intellektuellen französischen und internationalen Künstlerszene. Ausweis seiner Bedeutung ist die Tatsache, dass er neben Bréton und Aragon gar auf Max Ernsts berühmter Photocollage Au rendez-vous des amis, abgedruckt in Le Surréalisme au Service de la Révolution (1931), zu finden ist.
Unik ist vielseitig: Er wirkt an den Drehbüchern zahlreicher auch internationaler Filmprojekte mit, arbeitet unter anderem mit dem spanischen Regisseur Luis Buñuel Portolés oder dem französischen Photographen Henri Cartier-Bresson zusammen. Er tritt auch als Journalist in Erscheinung. Nachdem er 1927 gemeinsam mit anderen Surrealisten der Kommunistischen Partei beigetreten ist, schriebt er für linke Organe. Er wird Redakteur der linken Zeitung L’Humanité sowie von 1936-1939 Chefredakteur der von der kommunistischen Partei finanzierten Zeitung Regards, zu der neben dem erwähnten Aragon so illustre Schriftsteller wie André Gide, der Maler Pablo Picasso oder der berühmte Kriegsphotograph Robert Capa beitragen.
In dieser Zeit, 1938, heiratet er Marie Joséphine Le Flohic. Das Eheglück wird jedoch jäh von den weltpolitischen Krisen eingeholt. 1939 erfolgt Uniks Mobilisierung in die französische Armee. Am 19. Juni 1940, kurz nach dem Beginn des deutschen „Westfeldzugs“, gerät seine Einheit in Gefangenschaft. Bald darauf, Ende Juli 1940, wird Unik ins Stalag VIII A nach Görlitz verlegt, wo er die Häftlingsnummer 33026 erhält. Es folgen die typischen Etappen des Schicksals hunderttausender französischer Kriegsgefangener: Unik muss für das kriegsführende Deutsche Reich arbeiten, das seinen chronischen Arbeitskräftemangel über die Verpflichtung Kriegsgefangener sowie die Zwangsverpflichtung ziviler Arbeitskräfte auszugleichen versucht. So wird auch Unik schnell einem Arbeitskommando in Schmiedeberg in der Nähe von Dresden zugeteilt. Im Arbeitskommando 338 arbeitet in einer Spinnerei, wo er die Schmierung der Maschinen beaufsichtigt. Es folgen 1943 Verlegungen in die Arbeitskommandos 330 L, 330 R und schließlich 330 F, wo er in der Buchhaltung die Löhne der Gefangenen verwaltet.
Auch während der Haft schriebt Unik Gedichte, so Chant d’Exil – später Titel eines posthum 1972 herausgegeben Buches – die er an seine Frau Josie schickt, mit der er über die gesamte Gefangenschaft über eine intensive Korrespondenz pflegt, die überliefert ist und noch ihrer Auswertung harrt. Es finden sich Hinweise, dass er auch an den Theatervorstellungen im Lager beteiligt ist.
Im Januar nähert sich die Rote Armee, und die Evakuierung der Lager gen Westen steht bevor. Unik und einige andere Kameraden beschließen die Flucht aus dem Arbeitskommando, besorgen sich Zivilkleidung und verstecken sich in den Wäldern. Als der Vormarsch der Roten Armee stockt, werden seine Kameraden gefangen genommen und zurück ins Lager gebracht. Pierre Unik jedoch entkommt in die tschechischen Wälder – und hier verlieren sich seine Spuren.
Nach Kriegsende nehmen ehemalige Mitgefangene Kontakt mit Uniks Ehefrau Josie auf, überzeugt, dass deren Ehemann wie sie selbst bereits nach Hause zurückgekehrt ist. Da dies nicht der Fall ist, bemüht sich Josie bei den französischen Auskunftstellen um die Aufklärung des Schicksals ihres Mannes. Sie begibt sich in den Wirren der Nachkriegszeit nicht nur nach Prag, jetzt unter sowjetischer Oberhoheit stehend, sondern besucht sich auf der Suche nach einer Tasche mit Dokumenten, die Unik versteckt haben soll, im Jahre 1947 gar auf das ehemalige Lagergelände, das mittlerweile im polnischen Zgorzelec liegt. Doch erfolglos – das Schicksal Pierre Uniks bleibt ungeklärt. Er wird 1957 offiziell für tot erklärt.
¹ Die biographischen Daten entstammen, den mit französischsprachigen Spezialwerken verbundenen Beschaffungsschwierigkeiten geschuldet, dem französischen Wikipedia-Artikel zu Pierre Unik, abrufbar unter https://fr.wikipedia.org/wiki/Pierre_Unik (24.02.2025), sowie den Informationen seiner Großnichte.

Dies sind also die Hintergründe, warum das Stalag VIII A Görlitz im Jahre 1945 in einem Gedicht des französisches Schriftstellers Louis Aragon auftaucht, einem poetischen Nachruf auf den verschollenen Freund. Hier imaginiert Aragon die unbekannten Umstände der Flucht und des unbekannten Endes in einem für ihn unbekannten Gelände: Das Stalag, von dem Aragon nur nach den Beschreibungen des Freundes nach etwas wissen konnte, ist für Aragon ebenso wie die „slowakische“ verschneite Berglandschaft des Anfang 1945 ein imaginierter Ort, den er sich erst vorstellen muss („J’ai de la peine à m’imaginer le paysage“). Im poetischen Nachruf verbindet er die Vorstellung der Überwindung der Leiderfahrung der Gefangenschaft des Freundes mit dessen vergangenem Zukunftshorizont der Freiheit im Bild des Frühlings, in dem sich die Hoffnung am Ende des Schreckens verdichtet, die Anfang 1945 Menschen von Paris bis Schlesien und darüber hinaus verbindet, und die auch den vergangenen Horizont der Zukunft des Verschollenen bestimmt haben mag:
„In der Ferne hört man das tiefe Grollen des Frühlings kommen.
Dich
Pierre mit diesem kleinen Kopfschütteln Geflohen aus dem
Stalag halb nackt im Schnee an der Wende der Berge
Am Wendepunkt der Geschichte
Das Für und Wider abgewogen
Das Gewicht der Zukunft trägt dich fort
Dich
Stein und auf diesem Stein
Wird die Zukunft gebaut werden“
***
Diese Verheißung einer Zukunft hat sich für Pierre Unik wie für viele andere Gefangene, die noch in den letzten Tagen und Stunden des Krieges in den Lagern, auf der Flucht oder auf Todesmärschen umgekommen sind, nicht eingelöst. Die Imagination der Umstände, in denen Pierre Unik auf der Flucht starb, liest sich derweil wie eine poetische Ersatzhandlung für die unmögliche Rekonstruktion der tatsächlichen Umstände. Die anhaltenden gegenwärtigen Versuche der Rekonstruktion des Schicksals des französischen Schriftstellers und Kriegsgefangenen aber machen dessen Biographie zu einem Teil anderer „Zukünfte“ – und sind auch der Grund, warum dieser Text überhaupt entstanden ist.
Dass wir in Görlitz-Zgorzelec heute, im Jahre 2025, von Aragons Gedicht und diesem Bezug von einer Nachfahrin erfahren haben, macht einiges sichtbar: die weite Verzeigung der biographisch vermittelten Bezüge, die mit dem Gewaltort Stalag VIII A Görlitz verbunden sind. Dann die unvergangene Vergangenheit des Stalag VIII A und dessen Charakter als symbolischer Erinnerungsort im Gedächtnis von Nachfahr:innen, der bis in die Gegenwart hinein wirkt. Schließlich die Verbindungen im Zeichen von Aufarbeitung und Erinnerung, die durch diesen Erinnerungsort in der Gegenwart etwa zwischen Polen, Frankreich und Deutschland sowie zwischen unterschiedlichen Generationen entstehen: Das Stalag VIII A ist gleichsam ein Akteur, der zwischen Generationen, Ländern, Erinnerungskulturen vermittelt. Vermittelt über einzelne Biographien wie die Pierre Uniks steht es im Zentrum eines genuin historischen Beziehungsgeflechts, welches in sich ganz heterogene Elemente wie den französischen Surrealismus und ein deutsches Kriegsgefangenenlager miteinander verbindet. Es ist dadurch auch Teil eines sich in der Gegenwart fortspinnenden Beziehungsnetzes der Erinnerung und Aufarbeitung, welches Länder, Sprachgemeinschaften und Generationen umspannt. Inmitten dieses Netzes stehen auch der Meetingoint und die Stiftung Erinnerung, Bildung, Kultur, die daran arbeiten, es beständig zu erweitern.
MMM – Dr. Johannes Bent